In der Praxis ist es nach einem ergangenen Steuerbescheid und nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist regelmäßig problematisch zu klären, ob ein entsprechender Bescheid noch aus verfahrensrechtlicher Sicht änderbar ist. Eine Möglichkeit, einen Bescheid (noch nach Ablauf der Einspruchsfrist) zu ändern, ist die Vorschrift der „neuen Tatsachen“. Danach gilt: Immer dann, wenn nach Erlass eines Steuerbescheids neue Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, besteht grundsätzlich eine Änderungsmöglichkeit. Allerdings wird diese Änderungsmöglichkeit dahingehend eingeschränkt, dass bei einer Steuerminderung durch die Bescheidänderung Voraussetzung ist, dass den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden der Tatsachen oder Beweismittel trifft. Insoweit definieren der Gesetzgeber und die Rechtsprechung ein grobes Verschulden als Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit. Grobe Fahrlässigkeit liegt im Weiteren konkret immer dann vor, wenn der Steuerbürger die ihm zumutbare Sorgfalt aufgrund seiner persönlichen Fähigkeiten und Verhältnisse in einem nicht nachvollziehbaren Maß und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat.
In einem Steuerstreit vor dem Finanzgericht Nürnberg ging es nun um die Frage, ob der Einkommensteuerbescheid noch wegen neuer Tatsachen geändert werden kann. Im Urteilsfall hatte der Steuerpflichtige auf der Anlage AV (genauer gesagt zur Riester-Rente) einer Elster-Einkommensteuererklärung anstatt der unmittelbaren Begünstigung versehentlich lediglich die mittelbare Begünstigung eingetragen. Dies war ein Fehler. Da eine Änderung des Bescheides aufgrund dieses Fehlers zu einer geringeren Steuer führen würde, vertrat das Finanzamt die Auffassung, dass eine Änderung wegen neuer Tatsachen nicht möglich ist, weil den Steuerpflichtigen aufgrund seines eigenen Fehlers ein grobes Verschulden trifft.
Damit hat der Fiskus jedoch die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Das erkennende Finanzgericht Nürnberg kam mit Urteil vom 27.08.2015 unter dem Aktenzeichen 4 K 473/15 zu dem Schluss, dass hier dem Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden zuzurechnen ist. Der Grund dafür: Die Anleitung zur Anlage AV der Einkommensteuererklärung (im Streitfall ging es um das Jahr 2011) ist insoweit durchaus schwer und wahrscheinlich sogar missverständlich. Dies erkannten die Richter deshalb, weil der Steuerpflichtige seine konkreten Angaben bereits in Zeile 10 der Anlage AV tätigen muss. Die konkrete Anleitung, welche Folge seine Eintragung in der Zeile zehn der Anlage AV hat, erfolgt jedoch in der Anleitung zur Anlage AV erst zur Zeile 11. Der Steuerpflichtige müsste also in der Anleitung Punkte lesen, die er aus Sicht des Formulareintrags nicht benötigt. Insoweit stellt das erkennende Finanzgericht erfreulicherweise klar, dass es keine grobe Pflichtverletzung ist, wenn die Anleitung zur Anlage AV nicht vollständig gelesen wird.
Im Ergebnis sind folglich im Streitfall mit der unmittelbaren Zulagenberechtigung des Steuerpflichtigen Tatsachen und Beweismittel dem Finanzamt erst nachträglich bekannt geworden, die zu einem höheren Sonderausgabenabzug und damit zu einer niedrigeren Steuer führen. Aufgrund der missverständlichen Anleitung zur Einkommensteuererklärung trifft den Steuerpflichtigen an dem erst nachträglichen Bekanntwerden jedoch keine Schuld.
Exkurs: | Mittlerweile (genauer gesagt, ab dem Veranlagungszeitraum 2013) ist die Anleitung zur Anlage AV in den entsprechenden Punkten geändert worden. Dennoch ist es nicht nur nicht auszuschließen, sondern im Hinblick auf die Komplexität unseres Steuerrechts sogar eher wahrscheinlich, dass in anderen materiell-rechtlichen Bereichen entsprechende schwer verständliche Anleitungen oder Formularstellen gegeben sind. Im Zweifel sollte daher unter Heranziehung des Argumentationsgerüsts der vorgenannten Entscheidung auch in ähnlichen Sachverhalten versucht werden, eine niedrigere Steuerfestsetzung aufgrund nachträglich bekannt gewordener Tatsachen oder Beweismittel zu erreichen. |