Vielerorts wird von der Pflicht des Steuerpflichtigen gesprochen, alles zu tun, damit das Finanzamt überhaupt in der Lage ist, eine ordnungsgemäße Steuerfestsetzung vorzunehmen. Dies ist auch sicherlich richtig. Auf der anderen Seite hat jedoch auch das Finanzamt eine so genannte Amtsermittlungspflicht, wenn sich aus den Angaben des Steuerpflichtigen Widersprüche ergeben. Im Ergebnis kann es dann dazu kommen, dass zwar beide Seiten ihre Pflicht verletzt haben; entscheidend ist jedoch, welche Pflichtverletzung dann als großer einzustufen ist.
So war es auch in einem Fall vor dem Finanzgericht Berlin-Brandenburg. Hier hatte es ein Steuerpflichtiger vorschriftswidrig unterlassen, eine Ansparrücklage (der Vorgänger des heutigen Investitionsabzugsbetrags) aufzulösen, da er bis zum Ende des Zeitraums keine Investition vorgenommen hatte. Insoweit liegt eine klare Pflichtverletzung des Steuerpflichtigen vor. Dies ist jedoch nur die Seite des Steuerpflichtigen, und damit nur die halbe Wahrheit.
Auf der anderen Seite ist die Pflichtverletzung des Steuerpflichtigen dem Finanzamt nämlich nicht aufgefallen, weshalb es einen Steuerbescheid entsprechend der falschen Angaben des Steuerpflichtigen erließ. Dieser Steuerbescheid wurde auch bestandskräftig, weshalb eine Änderung nur noch im Rahmen der verfahrensrechtlichen (und begrenzten) Änderungsvorschriften möglich ist.
Als der Fiskus schließlich wach wurde und merkte, dass hier noch eine Ansparrücklage existent ist, die schon längst hätte aufgelöst werden müssen, warf er einen Blick in die Abgabenordnung. Dort stieß er offensichtlich auf den § 173 der Abgabenordnung (AO). Danach kann ein Steuerbescheid aufzuheben oder zu ändern sein, soweit dem Finanzamt Tatsachen oder Beweismittel nachträglich, also nach Erlass des ersten Steuerbescheides, bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.
Wie nicht anders zu erwarten, plädierte das Finanzamt daher: Von der unterbliebenen Auflösung der Rücklage habe es erst nach Erlass des ersten Bescheides erfahren, weshalb die Regelung des § 173 AO einschlägig und nun eine Änderung wegen neuer Tatsachen möglich sei. Aber ist hier tatsächlich ein nachträgliches Bekanntwerden im Sinne der Vorschrift gegeben?
Hier hakte auch das erstinstanzliche Finanzgericht Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 07.05.2015 ein. Unter dem Aktenzeichen 10 K 10167/11 erkennen die Richter zwar an, dass das Finanzamt tatsächlich und effektiv erst nachträglich von den unterbliebenen Investitionen und dem Ablauf des Investitionszeitraums erfahren hat. Dies allein reicht jedoch nicht aus, denn die Richter verweisen auf besagte Amtsermittlungspflicht des Finanzamtes. Mit einfachen Worten urteilten die Richter aus Berlin-Brandenburg: Das Finanzamt hätte aus seinem Akteninhalt und den abgegebenen Steuererklärungen feststellen können, dass es keine Investitionen gab und die Ansparrücklage hätte aufgelöst werden müssen. Daraus hätten sich Rückfragen beim Steuerpflichtigen quasi aufdrängen müssen.
Im Ergebnis ist damit die Pflichtverletzung des Steuerpflichtigen noch nicht vom Tisch, sondern lediglich auch eine Pflichtverletzung des Finanzamtes gegeben. Tatsächlich kommt jedoch das erstinstanzliche Gericht zu dem Schluss, dass die Pflichtverletzung des Finanzamtes deshalb überwiegt, weil die Konstellation des Einzelfalles keinerlei Hinweise darauf gibt, dass der Steuerpflichtige nicht nur aus Versehen gehandelt hat. Der Steuerpflichtige hat also lediglich versehentlich einen Fehler begangen, während das Finanzamt unentschuldbar „geschlafen“ hat.
Folglich kann festgehalten werden, dass das Finanzamt nicht unbedingt von einer entsprechenden neuen Tatsache wissen musste. Entscheidend ist vielmehr, ob es davon gewusst hätte, wenn es ordnungsgemäß gearbeitet (und nicht geschlafen) hätte.
Exkurs: | Leider ist die Sache noch nicht abschließend geklärt, denn der Fiskus ist inzwischen erwacht hat bei vollem Bewusstsein den Revisionszug nach München zum Bundesfinanzhof bestiegen. Insoweit muss der Bundesfinanzhof unter dem Aktenzeichen X R 21/15 klären, ob eine neue Tatsache noch gegeben sein kann, wenn das Finanzamt bei ordnungsgemäßer Arbeit von dieser Tatsache hätte Kenntnis haben müssen. Wenn die Richter des Bundesfinanzhofs nicht auch schon müde sind, sollten sie entsprechend ihren wachen, erstinstanzlichen Kollegen entscheiden. |